Kuscheltiere und Kordelsessel

(dpa/tmn) Design wandelt sich ständig. Und seit den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben die Designer auch gezeigt: Man kann alles designen. Design ist nun nicht mehr nur die Optik eines Möbels. Es ist auch ein Marketinginstrument, eine Lebenseinstellung, ein Merkmal zur Individualisierung.

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Ein Klassiker des Netzwerks Droog Design: Tejo Remys „Chest of drawers“ besteht aus Schubladen, die von ei-
nem Gürtel zusammengehalten werden. Bild: Droog/Gerard van Hees

Das hatte zur Folge, dass rund um die Jahrtausendwende die Vielfalt an Möbeln schier unüberschaubar war. Und sie lassen sich nicht mehr so leicht stilistisch einordnen. Es gab Tendenzen, aber den einen Trend, das eine Merkmal gab es nicht mehr.

Großen Einfluss in den 90er-Jahren hatte das niederländische Design. Das Netzwerk Droog Design, 1993 von der Designkritikerin Renny Ramakers und dem Designer Gijs Bakker gegründet, brachte ständig wechselnde Kreative zusammen. Ihre Produkte, oftmals nur Prototypen, verbinden Provokatives und Banales, Visionäres und Ironisches.

Es geht darum, etwas Einzigartiges mit einer intelligenten Maschine zu schaffen, die normalerweise für Massenproduktion eingesetzt wird. Jeroen Verhoeven, Designer

Diese lösen bei den Betrachtern immer wieder Aha-Gefühle oder Erheiterung aus. „Wir haben festgestellt, dass Design immer mehr seinen gesellschaftlichen Bezug verliert. Stattdessen wird es zum bloßen Marketinginstrument“, beschreibt Renny Ramakers die Ziele von Droog: „Dagegen wehren wir uns.“

Umfunktionierter Baum

Ein Droog-Klassiker ist Tejo Remys „Chest of drawers“: Mehrere aufeinandergestapelte Schubladen werden nicht von einem Rahmen zusammengehalten, sondern durch Gürtel. Jurgen Beys „Tree-trunk Bench“ ist ein umfunktionierter Baumstamm, der als Bank dient. Darin sind drei historistische Bronzeguss-Rückenlehnen befestigt. Während bei Droog Design in den Anfangsjahren die Idee des Recyclings im Vordergrund stand, ging es später um neue Herstellungsverfahren. Ein Produkt von 1996 ist Marcel Wanders „Knotted Chair“ (Cappellini). Der Sessel besteht aus Kohlenstoff- und Aramiesfaserkordeln, die von Hand verknotet, in Form gebracht und mit reichlich Epoxydharz fixiert werden. Das Ergebnis avancierte zu einer Design-Ikone der 90er-Jahre.

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Der Designer Ross Lovegrove mag keine Ecken und Kanten. So sieht auch einer seiner Klassiker, der „Oasi“-Sessel, aus. Bild: Estel

Protest gegen Minimalismus

Das Markenzeichen von Humberto und Fernando Campana ist Handgefertigtes im Lowtech-Style. Ihre Objekte sind ein Manifest gegen die serielle Einfallslosigkeit der Industrie. Für Sitzmöbel verwenden sie Industrieabfall, Verpackungsfolie, Plastikschläuche, Filz, Pappe, Teppichreste und Kuscheltiere. Diese fast schon anarchistischen Möbel sind ein Protest gegen den Minimalismus westlicher Prägung, der nach Meinung der Campanas nicht der brasilianischen Mentalität entspricht. „Wir sind kein Volk von Minimalisten, sondern sinnlich, lebenslustig und barock – ein Land voller Farben und Texturen“, sagt Humberto Campana. Bruder Fernando ergänzt: „Wir wollen unseren eigenen Wurzeln Modernität geben, ohne folkloristisch zu sein.“

Jenseits des Mainstreams

Einer ihrer bekanntesten Entwürfe, der „Favela Chair“ (Edra), ist ein gutes Beispiel für ihre Art von Handwerks-Revival: Nach dem Montageprinzip einer Favela-Hütte wird jedes Exemplar aus einem Haufen Holzreste neu zusammengesetzt. So wird jeder Stuhl zu einem Unikat ganz aus Abfall.

Selbst in der Design-Nation Italien beginnen Kreative Wege jenseits des Mainstreams einzuschlagen. Paola Navone, Mitglied der legendären Gruppe Alchimia, räumt dem Kunsthandwerk einen neuen Stellenwert ein und richtet sich mit ihren Entwürfen gegen das intellektuelle italienische Design, das ihr allzu glatt und gleichförmig ist. Stattdessen entwarf sie Rattanstühle in matten Gewürzfarben, schmiedeeiserne Betten und gemütliche Sessel. Damit nimmt sie den Landhaus- und Ethno-Look, der später so populär wurde, vorweg. Ihr Stil ist der globale Mix mit einem Hauch Handwerk.

Eine ganz andere Zielsetzung beim Design verfolgte Ross Lovegrove, mit seinen organisch anmutenden Entwürfen. Der Brite mag keine Ecken und Kanten. Er sagt: „Die Natur kennt doch auch keine geraden Linien, sie definiert sich nicht durch coole Ästhetik und den Ausschluss von emotionaler Wärme.“ So sehen Tischplatten aus Kunststoff bei ihm aus wie Bienenwaben (Herman Miller), die „Oasi“-Sessel (Frighetto) nehmen einen förmlich in den Arm. Und der Bürostuhl „RL Chair“ (Driade) aus Weichplastik ist der Anatomie des Rückenskeletts nachempfunden. Das Modell wurde später in „Bluebelle Spin“ umbenannt.

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Eine Designikone der 90er-Jahre: Marcel Wanders „Knotted Chair“ (links) besteht aus Kordeln, die von Hand ver-
knotet wurden. Bild: Cappellini

Welt noch in Ordnung

Aus Verantwortung gegenüber der Umwelt müsse man in Zukunft bescheidener mit allen Ressourcen umgehen, sagt der Designer. Lovegroves Credo ist von aktueller Gültigkeit: „Wir sollten aufhören, Design und Herstellung von schnell gemachten Wegwerfprodukten zu unterstützen.“ Tatsächlich setzt rund um die Jahrtausendwende ein Trend ein, den manche für einen Rückschritt halten mögen: Es werden Classic Editions, Relaunches, Reeditionen und Remakes aufgelegt – Gegenstände, die es so vor 20, 30 oder noch mehr Jahren gab, sind en vogue. Das mag daran liegen, dass die alten Formen am ehesten das Bedürfnis vieler Menschen nach Geborgenheit und bleibenden Werten erfüllen. Sie erinnern an Zeiten, als die Welt noch in Ordnung war – zumindest in der Rückschau.

Dass sich „Design-Art“ zur neuen Kunst wandelt und die Preise für Objekte stetig steigen, liegt auch daran, dass die Nachfrage in Asien größer wird. Die „Lockhead Lounge“ des Designers Marc Newson ist das mit Abstand teuerste zeitgenössische Designobjekt: 2009 wurde ein Exemplar der Liege, die Ende der 80er Jahre entstand, für 1,1 Millionen Pfund versteigert. Das Möbel erlangte KultStatus, als sich Madonna im Video zu „Rain“ darauf räkelte. Außerdem setzen immer mehr Designer auf limitierte Editionen. Vom „Cinderella Table“ (Carpenters Workshop Gallrery) des Design-Trios Demakersvan gibt es zum Beispiel nur sechs Stück. Der Tisch, von vorne kompakt, von der Rückseite ein hohles Gebilde, ist aus schneeweißem Marmor, am Computer gezeichnet und gefräst. Es ist eines dieser Werke, die die Trennung zwischen Design und Kunst aufheben.

Alte Formen wieder da

Oder, wie sein Designer Jeroen Verhoeven sagt: „Es geht darum, etwas Einzigartiges mit einer intelligenten Maschine zu schaffen, die normalerweise für Massenproduktion eingesetzt wird.“ Nach der Moderne ist also vor der Moderne: Klassische Materialien werden mit neuesten Computertechniken bearbeitet, alte Formen dürfen aus neuen Werkstoffen wieder auferstehen. Und ein Design-Diktat gibt es nicht mehr.


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