Minimalistisch wohnen ohne Verzicht

Minimalismus ist mehr als nur ein Einrichtungstrend. Die Lebensphilosophie kann helfen, den Blick auf das Wesentliche im Leben zu schärfen. Trotzdem muss man am Ende nicht in einem kargen Raum leben.

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Mit weniger Besitz zu mehr Wohlfühlen: Minimalistisch zu leben, bedeutet nicht schmerzhafter Verzicht, sondern mehr innere und äußere Aufgeräumtheit. Bild: Rainer Berg/Westend61/dpa-tmn

Hamburg. (dpa) Weiße Wände, helle Möbel und akzentuiert eingesetzte Accessoires: Wer im Internet Fotos zum Thema Minimalismus sucht, findet vor allem Bilder von karg eingerichteten Räumen. „Weniger ist mehr“ lautet das Motto des Einrichtungstrends. Stefanie Adam will Minimalismus aber nicht darauf beschränken. „Minimalismus ist ein Lebensstil, eine Haltung“, sagt die ehemalige Interieur-Stylistin, die inzwischen das Prinzip für ihre Arbeit als Lebenscoach nutzt. „Minimalismus ist die Reduktion auf das Wesentliche – im Kopf und im Umfeld“, erklärt Adam. „Das schafft Klarheit und öffnet den Raum für die Dinge, die wirklich wichtig sind: Familie, Partnerschaft und Freunde. Stille, Achtsamkeit, Demut und Dankbarkeit. Zeit für sich und inneres Wachstum.“

Gefährlicher Kaufrausch

Eine Idee, die auch Buchautorin Anne Weiss für sich entdeckt hat. Sie begann ihren Lebensstil zu hinterfragen, nachdem sie einen Job verloren hatte. „Schon länger hatte ich das Gefühl, dass was mit meinem eigenen Konsum nicht stimmt. Für den Stress in meinem Job entschädigte ich mich durch Geschenke an mich selbst“, erzählt sie. „Shopping war wie eine Ersatzdroge fürs echte Leben.“ Glücklich machten sie ihre Einkäufe nicht. „All das brauchte ich nicht – und zu allem Überfluss waren die Sachen oft unter fragwürdigen Bedingungen hergestellt worden und hatten durch ihre Produktion die Umwelt geschädigt“, erläutert Weiss. „Mir wurde auf einmal klar, dass der Kaufrausch weder für mich noch für andere Menschen gut ist.“

Berührt mein Besitz mein Herz?

Mit der Rückbesinnung auf das Wesentliche geht in der Regel auch eine Reduktion an Dingen einher. Sprich: Aussortieren und Entrümpeln. „Außen und innen bedingen sich“, sagt Adam. Sie empfiehlt dabei systematisch Raum für Raum vorzugehen und sich dort jeweils im Uhrzeigersinn vorzuarbeiten. Ihr Tipp: Jedes Möbelstück einzeln vornehmen, Schublade für Schublade sortieren. Und sich bei jedem Gegenstand fragen: Berührt er mein Herz? Benutze ich ihn mindestens einmal im Monat? Habe ich schon einen ähnlichen Gegenstand? Weiss hat verschiedene Konzepte ausprobiert. Ansätze, wie beispielsweise mit einer bestimmten Anzahl an Kleidungsstücken einen Monat lang auskommen zu müssen oder nur eine vorgegebene Menge an Gegenständen besitzen zu dürfen, waren ihr aber zu schematisch.„Mir war wichtig, meinen eigenen Weg zu finden – womit fühle ich mich wohl, was tut mir gut?“ Persönlich kommt die Buchautorin gut mit der Methode des Rückwärts-Shoppings zurecht. Die Idee: „Mit einem Korb durch meine Wohnung laufen, als wäre sie ein Kaufhaus – und das einpacken und anschließend verkaufen, verschenken, spenden, entsorgen, was auf den ersten Blick entbehrlich erscheint“, erklärt Weiss. Aber egal, auf welche Weise man ausmistet und Freiraum schafft: Eine komplett leer gefegte Wohnung ist aus Sicht von Adam nicht erstrebenswert. Im Gegenteil – so einem Wohnraum würde es an Persönlichkeit fehlen.

Zuhause als persönlicher Kraftort

Die Lebensberaterin versteht das Zuhause als einen persönlichen Kraftort, um Energie aufzutanken. Um sich wohlzufühlen, braucht es ihrer Ansicht nach unbedingt persönliche Dinge wie Fotos und emotionale Erinnerungsstücke. Sie können jedoch bewusst ausgewählt sein und einen besonderen Platz im Raum bekommen. „Gerade auf Sideboards oder Fensterbänken tragen diese Eyecatcher für die Seele so zu einem Wohlfühl-Gefühl bei“, findet Adam. Für einen insgesamt ruhigen, minimalistischen Gesamteindruck sorgen reduziert eingesetzte Farben. Maximal zwei bis drei Akzentfarben empfiehlt Adam, um Unruhe in den Räumen zu vermeiden. Für Ordnung und Struktur sorgen einheitliche Materialien und Gebrauchsgegenstände, zum Beispiel ein Set an identischen Gläsern. Fragen an sich selbst wie: „Wie möchte ich mich fühlen, wenn ich den Raum betrete? Was braucht es, um mich genau so fühlen zu können?“ können bei der Einrichtung helfen, so Adam. Grundsätzlich aber gilt aus ihrer Sicht: „Es gibt keine Regeln beim Minimalismus, denn jeder Mensch ist unterschiedlich und hat unterschiedliche Bedürfnisse.“

Minimalismus ist die Reduktion auf das Wesentliche – im Kopf und im Umfeld.

Stefanie Adam, Lebenscoach

Für Weiss bedeutet Minimalismus sowohl eine Reduktion auf das Wesentliche als auch bewusster Konsum. „Das neue Polyesterkleid made in Bangladesh, das Auto, mit dem ich als Stadtbewohnerin sowieso nur im Stau stand, die Fernreise, um mir eine Auszeit nach all dem Arbeitsstress zu gönnen – alles kognitive Dissonanzen“, zählt sie auf.„Es tut gut, nicht mehr dauernd gegen mein Gewissen zu handeln.“ Als schmerzhaften Verzicht versteht sie ihren Lebensstil nicht – schließlich könne sie sich das, was sie brauche, auch leihen oder gebraucht kaufen. „Wenn es wirklich Nachteile hätte, so zu leben, würde ich das nicht tun“, stellt sie auch fest. „Klar würde ich auch ganz gern mal wieder ans Rote Meer fliegen, um dort zu tauchen“, ergänzt Weiss. „Aber es gibt so vieles, was ich von der Welt unbedingt sehen möchte – und für das ich nicht so viele Emissionen in die Welt setzen muss. Da fällt mir die Entscheidung nicht schwer.“

Kompromisse finden

Doch was tun, wenn sich nicht alle in einer Partnerschaft, in der Familie oder Wohngemeinschaft dem Minimalismus verschreiben wollen? „Leben mehrere Menschen unter einem Dach, macht es Sinn, sich zusammenzusetzen und zu besprechen, welche Bedürfnisse jeder einzelne an sein Zuhause hat und was für ihn persönlich dafür wichtig ist“, rät Expertin Adam. Hier gilt also: Keine Bewertung, denn jeder Mensch ist unterschiedlich. Im zweiten Schritt können dann Kompromisse gefunden werden.


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